Digitale Souveränität entscheidet über Zukunft Deutschlands
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Deutschland und Europa müssen zusätzliche Maßnahmen ergreifen, um bei der
Digitalisierung Anschluss halten zu können und verlorenes Terrain
zurückzuerobern. Ohne rasche Maßnahmen zur Unterstützung der digitalen
Transformation der Wirtschaft würden Deutschland und Europa im internationalen
Wettbewerb zurückfallen und damit die Grundlagen für den Wohlstand künftiger
Generationen verspielen.
Darauf hat der Digitalverband BITKOM heute in Berlin
hingewiesen. „Wir müssen unsere digitale Handlungsfähigkeit wiederherstellen.
Die digitale Revolution erfordert Digitale Souveränität für Deutschland und
Europa. Wir müssen bei digitalen Schlüsseltechnologien, Diensten und
Plattformen internationales Spitzenniveau erreichen und gleichzeitig in der Lage
sein, selbstbestimmt und selbstbewusst zwischen Alternativen
vertrauenswürdiger Partner zu entscheiden“, sagte BITKOM-Präsident Prof.
Dieter Kempf. „Die Politik, aber auch alle relevanten Akteure in Wirtschaft und
Gesellschaft, müssen dem Ziel der Digitalen Souveränität oberste Priorität
einräumen. Derzeit spielen Deutschland und Europa im internationalen Vergleich
der digitalen Leistungsfähigkeit nur im Mittelfeld.“
In seinem aktuellen Positionspapier „Digitale Souveränität“ (hier als PDF zum download, 5 MB) weist BITKOM darauf
hin, dass Europa weiterhin in 28 Teilmärkte zersplittert ist und die Nachfrage nach
IT und Telekommunikation EU-weit um gerade einmal 0,1 Prozent wächst. Länder
wie die USA oder China hätten heute bereits deutlich größere, einheitliche
Heimatmärkte, gleichzeitig stiegen die entsprechenden Investitionen um ein
Mehrfaches.
Von den hundert global führenden IT- und Telekommunikationsunternehmen
haben gerade einmal neun ihren Sitz in Europa, davon nur zwei in Deutschland. „International führende Unternehmen sind der Kern eines
funktionierenden digitalen Ökosystems“, so Kempf. Ohne ein solches Ökosystem
hätten es auch innovative Start-ups schwer, denen in der digitalen Welt eine
besondere Bedeutung zukomme. Leitbranchen wie Maschinenbau,
Automobilindustrie, Logistik, Energie oder Medizintechnik und Pharma befinden
sich derzeit in einem rasanten Prozess der digitalen Transformation. Kempf: „In
vielen Leitbranchen verfügt Deutschland über weltweit führende Unternehmen.
Es muss alles dafür getan werden, dass diese Branchen und ihre Unternehmen
gestärkt aus der digitalen Transformation hervorgehen.“
Der Begriff Digitale Souveränität findet sich überschriftenartig in Äußerungen von
Politikern auf EU- und Bundesebene, auch im Koalitionsvertrag wird die
Rückgewinnung technologischer Souveränität als Ziel genannt.
Allerdings fehlt es
bislang an einer einheitlichen Definition. Für BITKOM bedeutet Digitale
Souveränität die Fähigkeit zu selbstbestimmtem Handeln und Entscheiden im
digitalen Raum. Digital souveräne Länder oder Regionen verfügen aus BITKOM-Sicht
bei digitalen Schlüsseltechnologien und -kompetenzen, entsprechenden
Diensten und Plattformen über eigene Fähigkeiten auf internationalem
Spitzenniveau.
Sie seien darüber hinaus in der Lage, selbstbestimmt und
selbstbewusst zwischen Alternativen leistungsfähiger und vertrauenswürdiger
Partner zu entscheiden, sie bewusst und verantwortungsvoll einzusetzen und sie
im Bedarfsfall weiterzuentwickeln und zu veredeln. Nicht zuletzt seien digital
souveräne Systeme in der Lage, ihr Funktionieren im Innern zu sichern und ihre
Integrität nach außen zu schützen. „Damit grenzen wir Digitale Souveränität von
den beiden Extrempolen Fremdbestimmung und Autarkie ab“, sagte Kempf. „Man
darf Souveränität nicht mit Autarkie verwechseln. Alles selbst machen zu wollen,
mit eigenen Ressourcen und mit entsprechenden Wohlfahrtsverlusten, wäre in
einer globalisierten Welt ein regelrechter Irrsinn und für eine exportorientierte
Volkswirtschaft wie die deutsche verheerend. Es muss vielmehr darum gehen,
uns aus Situationen der Fremdbestimmung zu lösen und uns souverän in einem
offenen, weltweiten Innovationssystem bewegen zu können.“
Digitale Souveränität betrifft nach Ansicht des BITKOM nicht nur die Wirtschaft,
sondern ebenso private und öffentliche Anwender. Es gehe bei Digitaler
Souveränität also einerseits um digitale Leistungsfähigkeit von Unternehmen,
andererseits um digitale Handlungsfähigkeit von Staat und Verbrauchern. „Wir
brauchen mehr Anbietersouveränität, also die Fähigkeit zu Herstellung und
Veredelung digitaler Technologien, Dienste und Plattformen. Und wir müssen
digitale Anwendersouveränität entwickeln, also die Fähigkeit zum
selbstbestimmten Einsatz digitaler Technologien, Dienste und Plattformen Dritter“,
so Kempf. „Es geht uns dabei auch darum, Unabhängigkeit von einzelnen
Wirtschaftsräumen, Staaten und Unternehmen bei digitalen Technologien,
Diensten und Plattformen herzustellen.“
Dazu schlägt BITKOM acht erste Maßnahmen für einen Neustart in die digitale
Welt vor:
1. Deutschland muss Motor einer digital souveränen EU sein
In Regionen mit einer heute bereits vorhandenen sehr guten Basis, sollten
technologische Schwerpunkte gebildet und zu weltweit einzigartigen
Leistungszentren ausgebaut werden. Diese Leistungszentren sollten zu einem europäischen Netzwerk verknüpft werden, das in seiner Gänze die digitale
Wirtschaft möglichst vollständig abbilden sollte.
Dabei sind Felder zu
identifizieren, in denen es sinnvoll und möglich ist, Voraussetzungen für die
Entwicklung von Leitanbietern zu entwickeln, die auch global eine Führungsrolle
einnehmen können. Deutschland sollte hier eine Vorreiterrolle übernehmen.
Dabei muss Deutschland Standards für die Weltmärkte setzen. Wer Standards
setzt, bestimmt den Markt. Die in Deutschland und Europa über Jahrzehnte
gewachsenen Strukturen und Verfahren der Standardisierung sollten überprüft
werden mit dem Ziel, die Prozesse stark zu beschleunigen und so aus
Deutschland heraus in neuen Technologiefeldern frühzeitig weltweit maßgebliche
Standards setzen zu können, u.a. im Sinne von de facto Marktstandards. Hierzu
sind pragmatische Ansätze im Sinne von Industriekonsortien und TestbedVerfahren
zu verfolgen.
2. Deutschland muss Europa zum Heimatmarkt machen
Die Zerklüftung des europäischen Markts ist der größte strukturelle Nachteil
gegenüber den USA und China. Ein echter digitaler Binnenmarkt mit EU-weit
einheitlichen Bedingungen vom Daten- und Verbraucherschutz bis zur
Besteuerung würde Europa sehr viel näher an die USA und China bringen.
Die
EU-weite Vereinheitlichung aller relevanten Regelungen im Sinne eines echten
digitalen Binnenmarkts sollte von der EU noch in der ersten Hälfte der aktuellen
Legislatur realisiert werden. Die ordnungspolitischen und rechtlichen Rahmenbedingungen
in Deutschland und Europa müssen entsprechend dem Ziel der
digitalen Souveränität ausgestaltet und optimiert werden. Dies betrifft als zentrale
Felder das Urheber-, Wettbewerbs- und Steuerrecht, den Außenwirtschafts-,
Daten- und Verbraucherschutz sowie die Telekommunikations- und
Medienordnung. Innovative Geschäftsmodelle dürfen nicht durch veraltete
Gesetze verhindert werden, Tech-Start-ups müssen auf dem Weg zum Global
Player optimale Voraussetzungen in Gründungs- und Wachstumsphase
vorfinden. In diesem Sinne ist das Instrument einer digitalen Folgenabschätzung
für alle Gesetze einzuführen.
3. Deutschland muss zum europäischen Start-up-Hotspot werden
Leistungsfähige, schnell wachsende und international orientierte Tech-Start-ups
sind mit entscheidend für ein funktionsfähiges digitales Ökosystem. Wir müssen
gründen, wachsen und internationalisieren so einfach wie möglich machen. Die
Gründungsphase ist zu stark bürokratisiert und reglementiert, für ein schnelles,
internationales Wachstum fehlt zu häufig das Geld.
Viele Gesetze sind nicht
zeitgemäß und verhindern innovative Geschäftsmodelle. Für Start-ups sollten in
den ersten vier Jahren ihres Bestehens grundsätzlich wachstumsfördernde
Sonderregeln gelten. Sie sollten steuerliche und arbeitsrechtliche Erleichterungen
ebenso umfassen wie eine Befreiung von Zwangsmitgliedschaften bei Kammern
und Berufsgenossenschaften.
4. Deutschland muss seine Forschungsförderung auf Digitaltechnologien konzentrieren
Das in der öffentlichen Forschungs- und Wirtschaftsförderung noch zu stark
verbreitete Gießkannenprinzip sollte zu einem Fokusprinzip weiterentwickelt
werden. Im Mittelpunkt öffentlicher Förderung Deutschlands und der EU sollten
künftig Maßnahmen stehen, die der Gewinnung Digitaler Souveränität auch und
gerade im Sinne der digitalen Transformation der deutschen und europäischen
Leitindustrien dienen. Denkbar ist ein Mindestanteil von 50 Prozent, der
Maßnahmen mit Relevanz für die Digitale Souveränität zu Gute kommt.
5. Deutschland muss Datenvielfalt und Datenschutz ins Gleichgewicht bringen
Eine wettbewerbsfähige Datenwirtschaft mit ihren Plattformen und intelligenten
Diensten braucht ein internationales Level-Playing-Field, u.a. durch eine europäische Datenschutzgrundverordnung. Datenschutz muss Datenwirtschaft unter
gleichen Bedingungen für alle Anbieter ermöglichen und darf sie nicht verhindern.
Zwei Grundprinzipien des Datenschutzes – Datensparsamkeit und Zweckbindung
– sind zu überprüfen und durch die Prinzipien der Datenvielfalt und des
Datenreichtums zu ergänzen bzw. zu ersetzen. Datenschutzfreundliche
Anonymisierungs- und Pseudonymisierungstechnologien sind zu fördern. Gleichzeitig sind Transparenzprinzipien zu stärken und die Kontroll- und
Sanktionsmechanismen bei Verstößen gegen das Datenschutzrecht zu
verbessern. In diesem Sinne ist eine Datenpolitik aus einem Guss zu entwickeln.
6. Deutschland muss sein Bildungsideal um ein digitales Bildungsideal ergänzen
Digitale Souveränität wird sich ohne einschlägiges Know-how nicht gewinnen
lassen. Sie braucht Menschen, die in der Lage sind, entsprechende Technologien
zu entwickeln und verantwortungsvoll einzusetzen. Hierzu muss das
Bildungswesen dergestalt reformiert werden, dass zum einen eine ausreichende
Verfügbarkeit von IT-Spezialisten dauerhaft gesichert und zum anderen die
Fähigkeit zum selbstbestimmten Einsatz digitaler Technologien in voller
gesellschaftlicher Breite über alle Gruppen, Schichten und Altersklassen hinweg
entwickelt wird. Informatik ist als Pflichtfach ab Klasse 5 einzuführen. Die Lingua
Franca der digitalen Welt – Englisch – ist ab der ersten Grundschulklasse im
Immersionsverfahren zu unterrichten mit dem Ziel, alle Grundschüler voll
zweisprachig in die Sekundarstufe zu überführen.
7. Deutschland muss seine Kommunikation optimal schützen
Europas Wirtschaft, Staat und Bürger müssen in die Lage versetzt werden,
absolut vertraulich und geschützt in digitalen Netzen zu kommunizieren. Hierzu
brauchen sie einschlägiges Know-how und zuverlässige Orientierungshilfen und
vertrauenswürdige Partner. Es sollte ein Transparenzzentrum aufgebaut werden,
das Verbrauchern, Selbständigen und kleinen Unternehmen verständliche und
einfache Orientierungshilfe bei Auswahl und sicherem Einsatz digitaler
Technologien bietet.
8. Deutschland muss die weltweit leistungsfähigsten digitalen Infrastrukturen aufbauen
Basis Digitaler Souveränität sind höchst leistungsfähige und sichere digitale
Infrastrukturen und intelligente Netze. Sie müssen als Teil europaweiter
Hochleistungsnetze schnellstmöglich in einer gemeinsamen Anstrengung von Wirtschaft und Staat aufgebaut werden.
Deutschland sollte sich zum Ziel setzen,
innerhalb der nächsten zehn Jahre der Flächenstaat mit den im weltweiten
Maßstab leistungsfähigsten digitalen Infrastrukturen in den Bereichen Breitband,
Verkehr, Energie, Gesundheit, Bildung und Verwaltung zu werden.
Breitbandstrategie und Netzallianz sollten als Blueprint für weitere zu
digitalisierende Infrastrukturen dienen. Die einzelnen Allianzen sollten durch
einen Nationalen Infrastrukturrat konzertiert werden.